Ich

Wir fühlen es, wir kennen es, wir sind es. Das Ich ist unser innerer Steuermann und Geschichtenerzähler. Doch was genau ist dieses Ich eigentlich?

Das Wichtigste in Kürze

Es ist immer da, begleitet mich auf Schritt und Tritt. Es kennt alle meine Erinnerungen, weiß, was ich fühle, weiß, wo ich bin. Mein Ich. Richte ich den Blick nach innen und stelle es mir vor, dann sehe ich eine Art Avatar: eine stofflose und leicht unscharfe Projektion der Person, deren Aussehen ich als mein eigenes wiedererkenne, nur etwas jünger und schlanker und mit einer Frisur, die ich vor zehn Jahren trug.

Doch beim Versuch, seine Form und essenziellen Eigenschaften zu begreifen, gleitet mein Ich mir wie Sand durch die Finger. Das Ich. Was ist das eigentlich? Meist nehme ich es als kleinen Steuermann im Cockpit meines Kopfes wahr. Doch es kann sich auch in entfernte Körperwinkel ausdehnen oder in der Vogelperspektive schweben, um mich selbst gleichermaßen von außen wahrzunehmen.
Mit der Frage, was genau das Ich nun ist, bin ich nicht allein. Zwar erkennen sich auch Schimpansen, Delfine und Elefanten selbst im Spiegel. Doch kein Wesen ist vermutlich wie wir Menschen in der Lage, das eigene Selbst so gründlich auf den Prüfstand zu stellen. So weit die Aufzeichnungen unserer Spezies zurückreichen, so lange zeugen sie auch von der Suche nach dem Ich.

“Ich denke, also bin ich”

Erste Etiketten gab ihm schon Aristoteles in seinen Bemühungen, die Welt zu kategorisieren. Als “Ousia”, das “primäre Seiende” oder “die erste Substanz” definierte er das Hypokeimenon, das “Zugrundliegende”, das unabhängig von konkreten Eigenschaften und Merkmalen als konzeptioneller Kern unteilbar fortbesteht. 2000 Jahre später spitzte der französische Philosoph Rene Descartes diesen Gedanken im 17. Jahrhundert mit seinem berühmten Satz “Ich denke, also bin ich” auf das körperlose, denkende Ich zu, die “res cogitans”, die er als Grundlage aller wissenschaftlich erfassbaren Wirklichkeit beschrieb.

Die Vorarbeiten dieser und anderer Philosophen prägten lange unser Bild vom Ich als einer losgelösten Instanz – und das stellt moderne Gelehrte noch heute vor Probleme Die Suche nach dem Ich: Gibt es so etwas wie das Ich überhaupt? Wenn ja: Hat es im Körper einen bestimmten Ort? Und welche Rolle spielt unser Gehirn bei der Entstehung dieser ominösen Empfindung?

Ohne Körper kein Ich

Fest steht: Der Körper ist viel wichtiger für die Konstruktion des Ichs, als Descartes es je vermutet hätte. Denn was auch immer ich erlebe, wird durch die Sinne gespeist. Wir sehen, hören, riechen, schmecken und fühlen die Welt um uns herum – und auch unseren Körper. Dieser verfügt sogar über einen eigenen Sinn nur für die Wahrnehmung seiner selbst: die Propriozeption, Der sechste Sinn. Rezeptoren in den Muskeln, Sehnen und Gelenken informieren das Gehirn ständig darüber, wo sich der Körper und seine Gliedmaße im Raum befinden, ob wir liegen, sitzen oder gehen. Gemeinsam schaffen all diese Eindrücke und ihre Verarbeitung im Gehirn das Selbst, das erlebte Ich-Gefühl. Es besteht aus den verschiedenen, ständig wechselnden Inhalten unseres Selbstbewusstseins und erdet uns mit einer zentralen Perspektive in der Welt.

Ganz grundsolide ist dieses Sinnes-Ich dennoch nicht. Denn die Selbstwahrnehmung unseres Körpers lässt sich leicht täuschen. So entstehen etwa nach einer Amputation bisweilen aus nun veralteten neuronalen Mustern im Gehirn Phantomschmerzen, wenn die fehlende Hand schmerzt. Und selbst gesunde und unverletzte Menschen lassen sich mit der richtigen experimentellen Trickbatterie davon überzeugen, eine Gummihand oder gar einen kompletten fremden Körper ihr Eigen zu nennen, wenn die Grenzen des Körpers verschwimmen.

Wenn das Ich verloren geht

Auch einige Krankheiten bringen bei den Patienten das sichere Gefühl ihres Ichs ins Wanken Das verlorene Ich. Menschen, die an einer Schizophrenie leiden, empfinden zum Beispiel ihre Handlungen, Gedanken oder Gefühle mitunter nicht mehr als die eigenen, sondern als von äußeren Mächten gesteuert. Demenz kann die Persönlichkeit auflösen oder das Selbst in der Vergangenheit versteinern lassen.

Spektakulär, wenngleich für den Betroffenen tragisch, war der Fall eines Patienten, der als A.D. in die Geschichte der Neurowissenschaft einging. Der Mann hatte infolge eines Herzinfarkts Schäden im frontalen und temporalen linken Cortex erlitten. Wie Woody Allens Character “Zelig” im gleichnamigen Film von 1983 nahm er fortan wie ein soziales Chamäleon immer neue Identitäten an, je nachdem, in welcher Umgebung er sich gerade befand. In der Krankenhausküche wurde er zum Chefkoch, unter Ärzten zum Doktor und in einer Bar zum Kellner.

Auch die Idee, dass traumatische Erlebnisse das Ich sogar in multiple Persönlichkeiten zersplittern können, erfreut sich auf den Fersen von Dr. Jekyll und Mr. Hyde nach wie vor großer literarischer Beliebtheit – wenngleich sie in Fachkreisen umstritten bleibt.

Lernen, Ich zu sein

Doch man muss nicht in solche Extreme gehen, um vom quecksilbrigen Wesen unseres Ichs fasziniert zu sein. Es genügt ein Blick in die menschliche Entwicklung. Denn wir werden nicht mit einem Ich-Bewusstsein geboren. Kleinkinder erkennen sich zu Beginn des zweiten Lebensjahrs noch nicht selbst im Spiegel Erkenne dich selbst – im Spiegel. Haben sie dann eines Tages doch begriffen, wem sie da gerade ins Gesicht blicken, hat das erblühende Selbstbewusstsein noch viel zu lernen.

Erst im Alter von drei bis fünf Jahren erwerben Kinder die sogenannte Theory of Mind, das Wissen um das Ich der Anderen und deren Kenntnisse über einen selbst Theory of Mind – ein Kinderspiel. Sogar das entfaltete Ich entwickelt sich einer Theorie des Philosophen Daniel Dennett zufolge dank der sprachlichen Begabung des Menschen fortwährend weiter. Als Erzähler und Protagonist zugleich verfolgt und formt es die jeweilige Lebensgeschichte und wird damit zum Erschaffer seiner eigenen Erzählung – mit den Worten des Philosophen formuliert: zum “Zentrum der narrativen Gravitation”.

Es ist das Paradox dieser so merkwürdigen Erscheinung “Ich”, dass es uns trotz dieser Fragilität, Wandelbarkeit und Vielschichtigkeit in der Regel beruhigend solide und vertraut erscheint. Dass das so ist, liegt unter anderem am Konzept der Meinigkeit. Es bezeichnet die Gewissheit, mit der wir bestimmte Phänomene als zu uns gehörend einordnen. Mein Bein, mein Bewusstsein, meine Biografie – dass dies alles “zu mir” gehört, ist eine Integrationsleistung des Gehirns. Erst wenn die vielen Teile als Ganzes wahrgenommen werden, erscheint das, was wir als Ich verstehen. Die Meinigkeit ist also eine Grundlage dafür, ein Modell des eigenen Selbst zu entwickeln, das auch über die Zeit stabil bleibt. Das Wissen, dass all dies “zu mir” gehört, erscheint uns dabei selbstverständlich – und hilft nach Vorstellung des Philosophen Thomas Metzinger dem Gehirn dabei, das erlebte und gedachte zu einem ständig aktualisierten Selbstmodell zusammenzubasteln “Mein Tunnel durch die Wirklichkeit”.

Wo sitzt das Ich?

Für die Hirnforschung ist das Ich ein faszinierender Forschungsgegenstand. Aber auch ein schwieriger. Beobachtungen des gestörten Selbst können ebenso wie bildgebende Verfahren Indizien für die Anatomie des Ichs liefern. Doch selbst bei der Suche nach knallharten neuronalen Korrelaten bleibt das Ich schlüpfrig. Ein einzelnes physiologisches Pendant unserer metaphorischen Schaltzentrale gibt es demnach nicht; erst in der komplexen Mischung entsteht das Ich. Bislang ging man davon aus, dass für diesen Cocktail Inselrinde, Gyrus cinguli sowie der mediale präfontale Cortex verantwortlich sind. Doch 2012 wurde der Fall eines Mannes bekannt, bei dem all diese Strukturen schwer geschädigt waren – und der sich trotzdem eines recht intakten Ichs erfreute. Seither vermutet man, dass auch noch weitere Areale bei der Ich- Bildung mitwirken, so wie zum Beispiel der Thalamus oder der posteriore cinguläre Cortex.

Neurobiologisch gesehen muss ich das Bild meines inneren Piloten also wohl gegen das eines Spinnennetzes ersetzen. Doch wenn es stimmt, was Thomas Metzinger behauptet, und es sowieso kein richtiges Selbst gibt, sondern sich das Gehirn nur fortwährend Selbstmodelle bastelt, die ein stabiles Ich vorgaukeln, dann lässt sich auf die Frage, was das Ich denn nun ist, ganz entspannt antworten. Das Ich ist das, was man selbst gerade meint.