Ausserkörperliche Erfahrung für Anfänger

Ausserkörperliche Erfahrung für Anfänger

Ausserkörperlich

Mal kurz in einen Körper des anderen Geschlechts schlüpfen? Es klingt nach Fantasterei, ist aber kein Ding der Unmöglichkeit. Forscher können die Vorstellung, die sich unser Gehirn von dem ihm zugehörigen Körper macht, erfolgreich manipulieren.

Wissenschaftliche Beratung: Dr. Christian Pfeiffer, Prof. Dr. Martin Lotze

Das Wichtigste in Kürze

  • Wir wissen intuitiv, welche Teile zu unserem Körper gehören und wie sie angeordnet sind. Dennoch ist dieses Körperbild eine Funktion des Gehirns und kann unter bestimmten Umständen fehlerhaft sein.
  • Krankhaft gestört ist das Körperbild etwa bei Neglect-Patienten oder bei manchen Epileptikern, die vorübergehende außerkörperliche Erfahrungen haben.
  • Aber auch bei Gesunden ist das Körperbild flexibel. Die Mechanismen, auf denen es beruht, lassen sich gezielt austricksen – so entstehen dann etwa die Gummihand- oder die Körpertausch-Illusion.

Einmal buchstäblich in der Haut eines anderen stecken: Bei fantasiefreudigen Filmemachern ist die Idee schon lange beliebt. Von “Solo für 2” bis “Switch – Die Frau im Manne”, von “Big” bis “Being John Malkovich”: Wenn das “Ich” der Hauptfigur plötzlich in einem fremden Körper wohnt, oder im Körper der Hauptfigur ein fremdes “Ich”, lassen sich herrliche Verwicklungen konstruieren. Dahinter steht freilich eine Frage, die nicht nur für Komödien taugt, sondern Philosophie und Wissenschaft schon immer beschäftigt hat: Wie verhalten sich Geist und Körper zueinander? Oder genauer: Wie verhalten sich Gehirn und Körperbild zueinander, und wie beeinflussen sich beide gegenseitig?

Ob wir nach etwas greifen, uns im Spiegel betrachten oder einen anderen Menschen an uns drücken: Wer wir sind, wo unser Körper endet und in welcher räumlichen Beziehung die Teile unseres Körpers zueinander stehen, ist uns intuitiv klar. Diese bewusst erlebte Selbstrepräsentation, Psychologen sprechen vom “Körperbild” oder “Körperschema”, erscheint so selbstverständlich, dass wir kaum einen Gedanken daran verschwenden. Hirnforscher geben sich damit freilich nicht zufrieden – sie wollen genauer wissen, wie das Bild unseres Körpers im Kopf entsteht.

Die Macht der somatosensorischen Karten

Zentrale Hirnregion für unsere Wahrnehmung von Körperberührungen und Propriozeption, also die Selbstwahrnehmung des Körpers, ist der primäre somatosensorische Cortex. Er verläuft wie der Bügel eines Kopfhörers einmal quer über das Gehirn und wandelt Sinnesempfindungen aus der Haut und den Gliedern in Wahrnehmung um. Dabei verarbeitet jedes Areal des Cortex einen anderen Körperteil, sodass sich eine so genannte somatosensorische Karte ergibt. Diese Karte jedoch kann einem Menschen bei Erkrankungen ungewöhnliche Eindrücke seines Körpers übermitteln. So spüren Patienten, denen etwa ein Arm oder ein Bein amputiert wurde, später oft Phantomschmerzen im fehlenden Körperteil – vermutlich weil dessen corticale Karte wegen der fehlenden Reize aus dem Stumpf falsche Signale sendet.

Ganz anders wirkt sich ein so genannter Neglect aus, der manchmal nach Schlaganfällen auftritt. Die Patienten können etwa nach einer Störung des Parietallappens eine Körperhälfte nicht mehr richtig wahrnehmen. Fertigen sie eine Zeichnung an, ist auch dort die betroffene Seite, etwa die linke Raumhälfte eines Zimmers, vernachlässigt oder fehlt ganz. Die Patienten sind sich dieser Störung nicht bewusst.

Noch stärker kommt die Identifikation mit dem körperlichen Selbst bei so genannten außerkörperlichen Erfahrungen durcheinander. Bedingt etwa durch Drogeneinfluss, extreme Angst oder bestimmte Epilepsien meinen manche Menschen vorübergehend ihren Körper zu verlassen und sich selbst von außen zu sehen. 2002 entdeckten Forscher in Genf und Lausanne um den Neurologen Olaf Blanke per Zufall, dass sie solche außerkörperlichen Erfahrungen bei einer Patientin gezielt hervorrufen konnten, indem sie den rechten Gyrus angularis stimulierten. Diese Cortex- Region im Übergangsbereich von rechtem Schläfen– und Parietallappen verrechnet verschiedene Körpersignale mit Seh– und Rauminformationen.

Die unheimliche dritte Hand

Aber auch Gesunde können erfahren, dass ihr Körperbild keineswegs unwandelbar feststeht, sondern schnell und mit relativ einfachen Mitteln manipuliert werden kann. Fast schon ein Klassiker ist die “Gummihand- Illusion”. Bei diesem Experiment sitzt ein Proband an einem Tisch und einer seiner Arme ruht hinter einem Sichtschutz. Direkt daneben wird eine Gummihand gelegt, die für den Teilnehmer sichtbar ist. Der “fehlende” Arm der Gummihand wird mit einem Tuch abgedeckt. Nun streichelt der Versuchsleiter mit einem Pinsel gleichzeitig die echte und die Gummihand – und der Proband stellt erstaunt fest, dass er die Gummihand als Teil seines Körpers wahrnimmt.

Die Erklärung für dieses irritierende Phänomen ist erstaunlich simpel: Offenbar versucht das Gehirn die verfügbaren Sinnesinformationen zu einem stimmigen Bild zusammenzufügen. Unpassendes wird dabei passend gemacht. Im Fall der Gummihand- Illusion dominiert die visuelle räumliche Information über das Tastempfinden: Man fühlt, was man sieht. Das Gehirn verknüpft beides kausal und generiert so die illusionäre Vorstellung, die Gummihand sei die eigene. Die abweichende propriozeptive Rückmeldung, wo sich der Arm tatsächlich befindet, wird vom Probanden vernachlässigt – ebenso wie das nüchterne Wissen, dass man eine Gummihand vor sich hat.

Chance für Amputierte?

Mittlerweile wurden viele Varianten des Ursprungsversuchs getestet. So ließen Forscher um den Schweden Henrik Ehrsson vom Karolinska Institutet in Stockholm die echte Hand im Blickfeld, direkt neben der Gummihand, nur der Arm blieb verdeckt – mit dem Ergebnis, dass die Probanden meinten, eine dritte Hand zu haben und gleichermaßen erschraken, wenn die Gummi– oder die echte Hand mit einem Messer bedroht wurde. Ehrsson war es auch, der einige Jahre zuvor in England mittels Hirnscans zeigen konnte, welche Areale aktiv sind, wenn Probanden eine Gummihand bewusst als ihren eigenen Körperteil empfinden. Die Hauptrolle spielt demnach der prämotorische Cortex, der Bewegungen vorbereitet und auf der Basis verschiedener Sinnesinformationen die Position der Arme und Hände berechnet.

Experimente in Pisa und Alicante wiederum ergaben, dass statt einer Gummihand auch eine virtuelle, passend ins Gesichtsfeld projizierte Hand als Körperteil akzeptiert wird. Dazu erfassten die Forscher die Bewegungen der echten Hand per Datenhandschuh und übertrugen sie eins zu eins auf die Projektion. So konnten sie beweisen, dass bereits die Kombination von Sehen- und- Bewegen- Können ausreicht, um die virtuelle Hand ins Körperbild zu integrieren.

Solche Ergebnisse sind auch für die praktische Anwendung interessant: So könnten sie Amputierten helfen, indem sie aktiv steuerbare Prothesen zum gefühlt eigenen Körperteil werden lassen. Oder sie könnten virtuelle Realitäten ganz besonders lebensecht machen. Das dürfte Fans von Computerspielen ebenso freuen wie alle diejenigen, die mittels ferngesteuerter Instrumente diffizile Aufgaben erledigen müssen – etwa Chirurgen bei minimalinvasiven Operationen.

Virtueller Raum

Bei Versuchen im virtuellen Raum bescheren die Forscher ihren Probanden außerkörperliche Erfahrungen.

Versuchspersonen außer sich

Spektakulärer ist freilich eine andere Weiterentwicklung der Gummihand-Illusion: die Übertragung auf den Körper als Ganzes. Die Gruppen von Blanke und Ehrsson haben seit 2007 mehrfach für Aufsehen gesorgt, indem sie bei gesunden Probanden den Eindruck hervorriefen, sich außerhalb ihres eigenen oder gar in einem fremden Körper zu befinden.

Zentrales Utensil für einige dieser Versuche ist eine 3D-Videobrille. Sie zeigt beispielsweise den Probanden von hinten – er sieht also ein virtuelles Bild seiner selbst zwei Meter vor sich stehen. Fühlt er nun eine Berührung am Rücken und sieht sie gleichzeitig an dem virtuellen Körper vor sich, kommt dies einer außerkörperlichen Erfahrung sehr nahe. In einer anderen Versuchsanordnung schaut der Proband an sich hinunter, sieht über die Videobrille aber Bauch und Beine einer unbekleideten Schaufensterpuppe aus deren Ich-Perspektive. Berührt der Experimentator Puppe und Proband synchron mittels zweier Stäbe an Brust und Bauch, entsteht wiederum eine Illusion: Die Versuchspersonen meinen zu spüren, wie der Stab die Puppe berührt. Die Schaufensterpuppe erscheint ihnen, jedenfalls zu einem gewissen Grad, als ihr eigener Körper. Die Forscher sprechen von einer “propriozeptiven Drift”.

Vollends kurios ist eine dritte Variante: Proband und Experimentator stehen sich gegenüber, reichen sich die Hand – und der Proband sieht in seinem Display alles aus der Perspektive des Experimentators, der eine 3D-Kamera auf seinen Kopf geschnallt hat. Wieder erscheint der fremde als der eigene Arm, man steht sich selbst gegenüber – die Versuchspersonen machten spontan Äußerungen wie: “Ich hatte den Eindruck, dass mein eigener Körper jemand anderer war”, oder: “Ich habe mir selbst die Hand geschüttelt!”

Sinne und Wissen im Widerstreit

In diesen und weiteren Versuchen wurde zunehmend deutlich, welche Voraussetzungen für die Körpertausch-Illusion gelten. Zentral scheint zu sein, mittels einer 3D-Videobrille in die Ich-Perspektive desjenigen einzutauchen, in dessen Körper man versetzt wird. Unter dieser Voraussetzung verarbeitet das Gehirn die verschiedenen räumlichen und propriozeptiven Sinnesinformationen zu einer Ich-Perspektive.

Bei den Berührungen ist zweitrangig, wo sie erfolgen. Selbst wenn nur die Hand stimuliert wird, fühlt man sich in den kompletten Körper hineinversetzt. Wenn die zuständigen Bereiche im prämotorischen Cortex und im hinteren Parietallappen die Sinnesinformationen verrechnen, erfolgt das also für den Körper als Ganzes und nicht separat für einzelne Körperteile, folgern die Forscher. Die Illusion kann sogar ganz ohne Berührungen entstehen, vor allem wenn die Perspektive nicht fixiert ist, sondern man den Kopf in der virtuellen Realität frei bewegen kann. Finden jedoch Berührungen statt, muss dies für Auge und Tastsinn synchron erfolgen. Andernfalls wird die Illusion zerstört.

Die Grenze zwischen den Geschlechtern ist mittels der beschriebenen Methoden problemlos zu überwinden: Die getesteten Männer ließen sich in Frauenkörper ebenso hineinversetzen wie in Schaufensterpuppen. Auch ob die Austauschkörper real oder virtuell erzeugt waren, spielte keine Rolle. Dagegen scheint der Versuch, das Bewusstsein eines Menschen in eine Kiste oder einen Tisch hineinzutransferieren, grundsätzlich zum Scheitern verurteilt zu sein – ebenso übrigens wie der Versuch, bei der Gummihand-Illusion die linke Hand durch eine Fußattrappe oder eine rechte Gummihand zu ersetzen.

Olaf Blanke und seine Forscherkollegen aus Barcelona ziehen in einer 2010 erschienenen Arbeit die Schlussfolgerung: So machtvoll die Mechanismen auch sind, welche allem Wissen um die Illusion zum Trotz unser Körperbild auf Basis aktueller Sinneseindrücke zu modifizieren vermögen, so bewegen wir uns doch immer in einem Rahmen, der durch unser Vorwissen über die Beschaffenheit unseres Körpers entstanden ist. Der jedoch scheint weit genug zu sein, um für neue spannende Experimente und Anwendungen viel Raum zu lassen – ebenso wie für weitere skurrile Drehbuchschreiber-Fantasien.

 

DIE TRÜGERISCHE WELT IM KOPF

DIE TRÜGERISCHE WELT IM KOPF

Wahrnehmung Psychologie

Wie wirklich ist die Wirklichkeit

Was wir wahrnehmen, erscheint uns als Wirklichkeit. Tatsächlich ist unser Bild der Welt subjektiv, lückenhaft, trügerisch und zerbrechlich. Zaubertricks, Sinnestäuschungen und so erstaunliche Phänomene wie Synästhesie machen das deutlich.

Wissenschaftliche Beratung: Prof. Dr. Uwe Ilg

Das Wichtigste in Kürze

  • Wahrnehmung ist die Aufnahme, Auswahl, Verarbeitung und Interpretation von Sinnesinformationen. Am Ende des Prozesses steht kein realistisches Abbild der Wirklichkeit, sondern ein subjektiv sinnvoller Gesamteindruck.
  • Die Aufmerksamkeit ist das Tor zur bewussten Wahrnehmung. Wird sie in die falsche Richtung gelenkt, entgehen uns auch Dinge, die direkt vor den Augen passieren. Zauberer wissen und nutzen das.
  • Sinnestäuschungen, Menschen, die Töne sehen oder schmecken und so bizarre Krankheitsbilder wie der Neglect zeigen, wie subjektiv, zerbrechlich und trügerisch Wahrnehmung ist – und helfen Hirnforschern, die dahinterstehenden Prozesse zu entschlüsseln.

Es ist im wahrsten Sinne des Wortes ein alter Hut – und nichtsdestotrotz immer wieder aufs Neue verblüffend. Man hat doch genau gesehen, dass der Zylinder eben noch leer war. Jetzt lugt da plötzlich ein Kaninchen putzmunter über die Krempe. Und – Simsalabim – schaut noch ein zweites hervor. Wie hat der Zauberer die da nur hineinbekommen? Es muss direkt vor unseren Augen passiert sein. Und vor denen von mindestens hundert anderen Zuschauern. Aber keiner hat etwas bemerkt. Also doch Zauberei? Nein. Magier wissen nur sehr genau um die Schwächen und Eigenheiten der menschlichen Wahrnehmung, und nutzen diese geschickt aus, um ihr Publikum zu täuschen.

Ihr wichtigstes Instrument ist dabei die Aufmerksamkeit. Denn wir nehmen vor allem die Dinge bewusst wahr, auf die sich unsere Aufmerksamkeit richtet. Wie ein Scheinwerfer erhellt sie manches in unserer Umwelt und folgt dort den Ereignissen. Doch dabei kann auch einiges im Dunkeln bleiben. In diesem Dunkel agieren Zauberer. Sie lenken die Aufmerksamkeit gezielt in eine bestimmte Richtung – die falsche – mit der Folge, dass uns an anderer Stelle das – eigentlich wichtige– Geschehen entgeht.

Wahrnehmung ist nicht gleich Wirklichkeit

Die Neurowissenschaften haben inzwischen erkannt, wie wertvoll die Tricks und Methoden von Zauberern sind, um Wahrnehmungsprozesse und die dahinterstehenden neuronalen Mechanismen besser zu verstehen. Denn fest steht: Zauberer täuschen nicht die Augen, sie täuschen das Gehirn.

Erst dort wird aus dem Input der Sinnesorgane eine Wahrnehmung. Doch was nehmen wir überhaupt wahr? In jedem Fall kein Eins-zu-eins-Abbild der Realität. Denn die gesamte Flut an Informationen, die permanent über das ganze Sinnessystem einströmt, zu verarbeiten, würde die Kapazitäten des Gehirns bei Weitem überfordern. Um den Überblick zu behalten, muss das Gehirn deshalb eine Auswahl treffen, das Wichtige vom Unwichtigen trennen. Genau das macht die Aufmerksamkeit.

Wahrnehmung beinhaltet also nicht nur die Aufnahme, sondern auch die Selektion, Verarbeitung und Interpretation von sensorischen Informationen. Allerdings sind die Daten der verschiedenen Sinnessysteme nicht selten widersprüchlich oder unvollständig. Wie solche multisensorischen Sinnesinformationen integriert und verarbeitet werden, erforschte Marc Ernst am Institut für kognitive Neurowissenschaften in Bielefeld (heute Professor in der Abteilung Angewandte Kognitionspsychologie der Universität Ulm). In seinen Virtual-Reality-Experimenten versucht er, die Wahrnehmung gezielt hinters Licht zu führen, indem er Konflikte zwischen den Sinnessystemen schafft. Quintessenz der Versuche: Das Gehirn erliegt bestimmten Täuschungen, weil es unzureichende, mehrdeutige sensorische Daten unter Rückgriff auf Vorwissen und Erfahrungswerte zum plausibelsten Gesamtbild ergänzt.

Zauberer schaffen es, gezielt die Aufmerksamkeit des Publikums abzulenken – und können so zum Beispiel ein Kaninchen aus einem Zylinder ziehen. © Mike Kemp/ Rubberball/ Getty Images

Mit eigenen Augen

Eine schlüssige, anschauliche Repräsentation der Umwelt und des eigenen Körpers zu schaffen – dies steht am Ende des Wahrnehmungsprozesses. Er ermöglicht es dem Menschen, sich in einer höchst komplexen Umgebung zurechtzufinden, sinnvoll zu handeln, ein mentales Modell der Welt aufzubauen und planerisch zu denken. Um ein realistisches Abbild der Wirklichkeit handelt es sich dabei nicht. Weil das, wie gesagt, die Kapazitäten des Gehirns überfordern würde, und weil es das auch gar nicht braucht. Entscheidend ist, dass die Informationsschnipsel von den Sinnessystemen zu einem subjektiv sinnvollen Gesamteindruck zusammengeführt werden.

Warum subjektiv? Weil das, was wir bewusst wahrnehmen, Ergebnis eines größtenteils unbewusst ablaufenden Verarbeitungsprozesses ist, in den neben Sinnesdaten auch Emotionen, Erinnerungen, persönliche Erfahrungen und bereits gespeicherte Vorstellungen einfließen. Also Aspekte, die individuell unterschiedlich sind. Die Binsenweisheit, dass jeder Mensch die Welt mit eigenen Augen sieht, trifft also zu. Noch richtiger wäre zu sagen: Jeder Mensch nimmt seine eigene Welt wahr.

Wenn die Hälfte der Welt verschwindet

Wie schnell diese Welt eine ganz andere werden kann, macht das Phänomen des Neglect deutlich. Es tritt bei rund einem Viertel aller Patienten mit Schlaganfällen in der rechten Hirnhälfte auf und führt dazu, dass die Betroffenen die linke Seite ihres Körpers und ihres Wahrnehmungsraumes ignorieren. Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren könnten nachweisen, dass Sinnesreize auf der vernachlässigten Körperseite vom Gehirn zwar noch registriert werden, zumindest auf der Stufe der primären sensorischen Verarbeitungszentren. Doch der Input gelangt nicht mehr ins Bewusstsein der Betroffenen. Die Hirnforschung ist sich inzwischen weitgehend einig, dass es sich beim Neglect um eine Störung der Aufmerksamkeit handelt, die glücklicherweise in den meisten Fällen nur vorübergehend ist.

Aber wie wird die Ausrichtung der Aufmerksamkeit vom Gehirn gesteuert? Welche Hirnregionen sind an Wahrnehmungsprozessen überhaupt beteiligt? Und welche Aufgaben haben sie dabei? Nicht nur Neglect-Patienten helfen der Hirnforschung, diese Fragen zu beantworten. Sondern auch vergnüglichere Beispiele dafür, wie trügerisch unsere Wahrnehmung sein kann: Die optischen Illusionen.

Wahrnehmungsforscher David Eagleman bezeichnet sie als “Fenster in die Welt des Sehens”. Ein Fenster, durch das inzwischen viele Neurowissenschaftler schauen, um herauszufinden, wie die visuelle Wahrnehmung funktioniert.

Zauberer

Zauberer schaffen es, gezielt die Aufmerksamkeit des Publikums abzulenken – und können so zum Beispiel ein Kaninchen aus einem Zylinder ziehen.

Mit eigenen Augen

Eine schlüssige, anschauliche Repräsentation der Umwelt und des eigenen Körpers zu schaffen – dies steht am Ende des Wahrnehmungsprozesses. Er ermöglicht es dem Menschen, sich in einer höchst komplexen Umgebung zurechtzufinden, sinnvoll zu handeln, ein mentales Modell der Welt aufzubauen und planerisch zu denken. Um ein realistisches Abbild der Wirklichkeit handelt es sich dabei nicht. Weil das, wie gesagt, die Kapazitäten des Gehirns überfordern würde, und weil es das auch gar nicht braucht. Entscheidend ist, dass die Informationsschnipsel von den Sinnessystemen zu einem subjektiv sinnvollen Gesamteindruck zusammengeführt werden.

Warum subjektiv? Weil das, was wir bewusst wahrnehmen, Ergebnis eines größtenteils unbewusst ablaufenden Verarbeitungsprozesses ist, in den neben Sinnesdaten auch Emotionen, Erinnerungen, persönliche Erfahrungen und bereits gespeicherte Vorstellungen einfließen. Also Aspekte, die individuell unterschiedlich sind. Die Binsenweisheit, dass jeder Mensch die Welt mit eigenen Augen sieht, trifft also zu. Noch richtiger wäre zu sagen: Jeder Mensch nimmt seine eigene Welt wahr.

Wenn die Hälfte der Welt verschwindet

Wie schnell diese Welt eine ganz andere werden kann, macht das Phänomen des Neglect deutlich. Es tritt bei rund einem Viertel aller Patienten mit Schlaganfällen in der rechten Hirnhälfte auf und führt dazu, dass die Betroffenen die linke Seite ihres Körpers und ihres Wahrnehmungsraumes ignorieren. Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren könnten nachweisen, dass Sinnesreize auf der vernachlässigten Körperseite vom Gehirn zwar noch registriert werden, zumindest auf der Stufe der primären sensorischen Verarbeitungszentren. Doch der Input gelangt nicht mehr ins Bewusstsein der Betroffenen. Die Hirnforschung ist sich inzwischen weitgehend einig, dass es sich beim Neglect um eine Störung der Aufmerksamkeit handelt, die glücklicherweise in den meisten Fällen nur vorübergehend ist.

Aber wie wird die Ausrichtung der Aufmerksamkeit vom Gehirn gesteuert? Welche Hirnregionen sind an Wahrnehmungsprozessen überhaupt beteiligt? Und welche Aufgaben haben sie dabei? Nicht nur Neglect-Patienten helfen der Hirnforschung, diese Fragen zu beantworten. Sondern auch vergnüglichere Beispiele dafür, wie trügerisch unsere Wahrnehmung sein kann: Die optischen Illusionen.

Wahrnehmungsforscher David Eagleman bezeichnet sie als “Fenster in die Welt des Sehens”. Ein Fenster, durch das inzwischen viele Neurowissenschaftler schauen, um herauszufinden, wie die visuelle Wahrnehmung funktioniert.

Süße Säure und Musik, die schmeckt

Doch nicht nur das wichtigste Sinnessystem des Menschen, der Sehsinn, ist anfällig für Täuschungen. Auch die Geschmackswahrnehmung kann in die Irre geführt werden. So lässt die afrikanische Wunderbeere Saures süß schmecken. Noch interessanter – vor allem für die Pharmaindustrie – sind sogenannte Bitterblocker. Mit diesen molekularen Geschmacksverdrehern soll die starke Bitterkeit mancher Medikamente nicht mehr wahrnehmbar gemacht werden. Für die Wissenschaft sind solche Substanzen allerdings in erster Linie Werkzeuge, um die Geheimnisse des Geschmacksinns zu entschlüsseln.

Eine außergewöhnlich reiche Wahrnehmungswelt hat Uta Jürgens, Psychologin und Doktorandin am MPI für Hirnforschung in Frankfurt (heute: Eidgenössische Forschungsanstalt WSL). Liest sie ein Buch oder eine Zeitung, sieht sie die Buchstaben nicht so wie sie sind – schwarz auf weiß – sondern in bestimmten Farben. Und genauso gibt es Personen, die, wenn sie Musik hören, die Töne sehen oder sogar schmecken. Synästhesie heißt dieses Phänomen, bei dem zwei oder sogar drei Sinnesempfindungen miteinander gekoppelt sind. Manche Experten schätzen, dass bis zu vier Prozent aller Menschen Synästhetiker sein könnten. Was in ihrem Gehirn anders läuft, wird von Neurowissenschaftlern seit einigen Jahren intensiv untersucht. Noch sind die Erklärungsmodelle hypothetisch. Doch fest steht: Genau wie Neglect-Patienten, visuelle Illusionen und die Tricks von Zauberkünstlern helfen auch Synästhetiker der Forschung, die menschliche Wahrnehmung besser zu verstehen.

WIE DIE WELT IN DEN KOPF KOMMT

WIE DIE WELT IN DEN KOPF KOMMT

Wie die Welt in den Kopf kommt

Wahrnehmung ist ein komplexer Prozess: Verschiedene Sinnesorgane liefern Daten, erst im Kopf entsteht ein einheitliches Bild. Wie das Gehirn das Puzzle zusammensetzt, untersucht ein Bielefelder Forscher – mittels Illusionen und gezielter Verwirrung.

Wissenschaftliche Beratung: Prof. Dr. Frank Bremmer, Prof. Dr. Markus Lappe

Das Wichtigste in Kürze

  • Auf Grundlage verschiedener Sinnesinformationen, die von Signalrauschen betroffen, oft unvollständig und mitunter sogar widersprüchlich sind, erzeugt das Gehirn ein klares, einheitliches Bild unserer Umwelt.
  • Wie die Versuche von Marc Ernst und Kollegen zeigen, verrechnet das Gehirn die verfügbaren Informationen dabei auf mathematisch-statistisch optimale Weise.
  • Reichen die aktuellen Sinnesdaten nicht aus, kommen Vorannahmen zum Tragen, die auf der Statistik unserer Umwelt beruhen. Verändert sich die Umwelt, kann das Gehirn flexibel umlernen.

Wenn Marc Ernst etwas über seinen Forschungsgegenstand erfahren will, dann foppt er ihn. Und mit diesem auch die Probanden und Besucher, die ihn in seinem Labor (früher an der Universität Bielefeld, heute in Ulm) besuchen. Er verwirrt ihren Sehsinn, narrt ihr Tastempfinden oder programmiert ihre intuitiven Welt-Erfahrungen um. Und das alles für die Forschung. Denn das Thema des Professors für kognitive Neurowissenschaften ist die Wahrnehmung: Wie spielen die verschiedenen Sinne zusammen? Wie kombiniert das Gehirn etwa Gesehenes, Gehörtes und Rückmeldungen des Körpers zu einem einheitlichen Bild von dem, was um uns herum vorgeht?

“Wie alle technischen Sensoren sind auch unsere Sensoren nicht perfekt, sodass die Sinneseindrücke verrauscht und unter Umständen mehrdeutig sind”, sagt Ernst, ein jugendlich wirkender Mann mit dunklem Wuschelkopf. Das müsste eigentlich zu Problemen führen. Dennoch entsteht in aller Regel ein einheitliches Bild in unserem Kopf. Um herauszufinden, wie dem Gehirn das trotz der mitunter schlechten Datenlage gelingt, täuscht Marc Ernst in seinem Labor gezielt einzelne Sinne. “Konflikte zwischen den Sinneskanälen einbauen”, nennt er es selbst.

Virtuelle Bauklötzchen

Das ist selbst in einfacheren Fällen wie dem Zusammenspiel von Auge und Tastsinn mit viel technischem Aufwand verbunden. Ernst führt den Besucher zu einem Gerät, das entfernt an Untersuchungsaufbauten beim Augenarzt erinnert: Man legt sein Kinn auf ein Gestell und schaut durch eine Brille. Zusätzlich braucht man Daumen und Zeigefinger, die man in beweglich aufgehängte Fingerhüte steckt.

Nun beginnt der Versuch. Auf einem Bildschirm erscheint ein Balken. Dort, wo man seine Fingerspitzen vermutet, sieht man gleichzeitig zwei Punkte. Nun wird zugegriffen: Einen Moment lang kann man den Balken fühlen, dann löst er sich in Luft auf. Das Ganze wiederholt sich mit einem zweiten Balken. Schließlich wird gefragt, welcher von beiden der dickere war. Der Trick bei der Sache: In der virtuellen Realität des Versuchs gelten die Gesetze der realen Welt nicht. Die gesehene und die gefühlte Dicke des Balkens können verschieden sein: Das eine ist eine dreidimensionale Computergrafik, das andere ein mechanischer Widerstand, vermittelt über filigrane Roboterärmchen, an denen die Fingerhüte befestigt sind.

Ernst kann also beides unabhängig voneinander programmieren und so untersuchen, welchen Anteil an der Größeneinschätzung das Sehen und welchen das Fühlen hat. Zudem kann er über die Bildauflösung die Qualität des optischen Signals regulieren. Denn schon länger bekannt war: Sieht man normal, dominiert das Auge die Wahrnehmung, Experten sprechen von “visual capture”. Ernsts Versuch zeigte jedoch: Es liegt nicht am Sehen an sich, sondern an der Qualität der Eindrücke. Unter normalen Umständen liefert das Auge schlicht die zuverlässigere Information. Je ungenauer der Proband dagegen sieht, desto größer wird der Einfluss des Tastsinns.

Bewegung

Wie bewegen sich Menschen, wenn sie sich in einer Umgebung ohne Orientierungspunkte befinden? Dieser Frage ging Marc Ernst im Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik mithilfe eines speziellen Laufbands nach.

Das Gehirn als “Black Box”

Das Gehirn nimmt alle Informationen und rechnet sie zusammen. Es wirft nicht eine Information weg, bloß weil sie schlechter erscheint – vielmehr wird diese Information entsprechend schwächer gewichtet. Diese “Verrechnung” im Gehirn kann man in mathematische Formeln fassen, die für Fachleute alte Bekannte sind: “Das Gehirn tut genau das, was auch ein Ingenieur machen sollte, wenn er verschiedene Messinformationen vom selben Objekt hat. Es nutzt die Informationen statistisch optimal.

Wie das neurobiologisch vonstattengehen könnte, diese Frage überlässt Ernst anderen. Ihn selbst interessiert nicht der Prozess der Verarbeitung oder seine neuronale Grundlage, sondern nur das Ergebnis. “Black Box Analysis” nennt er diese Herangehensweise: Wie es im Kasten aussieht, welche Schaltkreise von Nervenzellen diese Berechnung ermöglichen, ist egal – von Interesse ist nur, wie der Kasten auf bestimmten Input reagiert. “Unser Gehirn gaukelt uns eine Eins-zu-eins-Abbildung der Umwelt nur vor”.

Zusammen mit Kollegen konnte Ernst nachweisen, dass die These von der statistisch optimalen Verrechnung bei der Wahrnehmung in ganz verschiedenen Kontexten gilt. Etwa bei dem Versuch, Menschen ohne Orientierungspunkte und Hilfsmittel geradeaus laufen zu lassen. Ernst probierte das in der Wüste, konstruierte dann aber – in Tübingen, wo er früher forschte – ein quasi unendlich großes Lauflabor, um die Bedingungen besser kontrollieren zu können: Der Proband setzt eine Display-Brille auf und geht durch eine computergenerierte virtuelle Umgebung. Dabei steht er auf einem Laufband, das sich in alle Richtungen bewegen kann und ihn so immer wieder in die Mitte zurücktreibt – um zu verhindern, dass er irgendwann gegen die Laborwand läuft.

Bewegungs- Kalibration

“Die gängige Vorstellung ist ja, dass man Kreise läuft, weil das stärkere Bein längere Schritte macht”, sagt Ernst. “Aber das ist falsch.” Körperwahrnehmung und Gleichgewichtssinn arbeiten ungenau, was normalerweise kein Problem ist, wenn das Auge Orientierungspunkte hat und die Fehler so ausgleichen kann. Fällt diese Korrektur weg, schaukeln sich die statistisch zufälligen Ungenauigkeiten aber auf. In der Folge läuft man unregelmäßige Kreise, durchschnittlich etwa 30 Meter groß – mal in die eine, mal in die andere Richtung.

Wie Auge und Bewegung zusammenhängen, kann Ernst aber auch mit einer Dartscheibe demonstrieren. Der Besucher muss eine Prismenbrille aufsetzen, die das Gesichtsfeld nach links verrückt. Daraufhin landen alle Pfeile weit links von der Scheibe. Nach zehn oder zwanzig Versuchen gewöhnt sich das Gehirn aber an die neuen Umstände. “Es rekalibriert”. Allmählich trifft man wieder so gut wie sonst – bis man die Brille wieder absetzt und eine neue Rekalibration nötig wird. Dieser Vorgang erfolgt auf eine Weise, wie es ein Ingenieur nicht besser entwerfen könnte. Denn eine zu schnelle Umstellung wäre nicht sinnvoll: Erst nach einer gewissen Zahl von Pfeilen, die alle weit links des Ziels gelandet sind, ist ja hinreichend sicher, dass ein systematischer und kein zufälliger Fehler vorliegt.

Krater

Dieses Bild zeigt einen Meteor-Krater in Arizona. Dass es sich um eine Mulde und nicht um einen Hügel handelt, schließen wir aus dem von oben einfallenden Licht. Dreht man das Bild um, wird die Zuordnung etwas schwieriger.

Anpassung an die Statistik der Umwelt

Nicht immer reichen jedoch die aktuellen Sinnesinformationen für eine schlüssige Interpretation aus. Dann kommt Vorwissen ins Spiel. Beeindruckend zeigt sich das in einem Selbstversuch: Wenn sich eine Hohlmaske, etwa eine von Charlie Chaplin, in einem Video langsam dreht, scheint man sowohl von vorn als auch von hinten ein normales Gesicht zu sehen, mit der Nase als dem Punkt, der dem Betrachter am nächsten ist. Der räumliche Eindruck entsteht hier durch die Schattierungen, und die sind zweideutig. Unser Gehirn muss also eine Vorannahme machen. Und da wirkt sich aus, dass wir sehr viel Erfahrung mit Gesichtern haben und wenig mit Hohlgesichtern.”

Neben aktuellen Sinneseindrücken fließt also in die Wahrnehmung ganz unbewusst auch Erfahrung ein. Die Statistik der Umwelt. Wir erwarten das, was wir kennen, und diese Erwartung beeinflusst die Wahrnehmung. Aber ein Umlernen ist möglich. So sind wir durch die Sonne gewohnt, dass Licht von oben kommt, und interpretieren auch Fotos entsprechend. Man schafft es  jedoch, den Probanden diese Sehgewohnheit vorübergehend abzutrainieren. Ebenso sind wir rechte Winkel gewohnt: Entsteht auf unserer Netzhaut etwa ein schiefwinkliges Bild eines Fensters, interpretieren wir das perspektivisch, als schräge Blickrichtung aufs Fenster.

Daraus kann man quasi nebenbei einen philosophischen Schluss ziehen. Wenn Wahrnehmung von individuellen Vorerfahrungen abhängt, bedeute das schließlich: “Die Wahrnehmung jedes Menschen wird unterschiedlich sein.”

Korrelation und Kausalität

In Zukunft will Marc Ernst sich noch mehr auf den Faktor Zeit konzentrieren, um sich von seinen bisher sehr statischen Modellen mehr in Richtung des normalen Lebens zu bewegen: “Die Welt ist schließlich dynamisch.” In seiner aktuellsten Studie geht es deshalb um das Thema Gleichzeitigkeit. “Wie entscheidet das Gehirn, ob etwa ein Lichtblitz und ein Knall auf dasselbe Ereignis zurückgehen?”, beschreibt Ernst die Frage. Auch hier geht es ganz klar um die Integration verschiedener Sinneskanäle. Und die Antwort sei gar nicht so einfach, wie man zunächst denke: Angesichts unterschiedlicher Signallaufzeiten – Licht ist schneller als Schall – und unterschiedlicher Verarbeitungszeiten von Seh- und Hörsinn lasse sich nämlich nicht ohne Weiteres feststellen, ob Blitz und Knall gleichzeitig stattfanden.

Wenn möglich, das konnten Ernst und Kollegen Ende 2011 zeigen, behilft sich das Gehirn mit Korrelationen in der zeitlichen Abfolge. Die Forscher sind überzeugt: Nach diesem Schema schaffen wir es beispielsweise auf lauten Partys, Personen und Stimmen einander zuzuordnen. Aber auch dieses Ergebnis bietet Stoff für philosophische Diskussionen. Es bedeutet nämlich, dass unser Gehirn bei der Wahrnehmung regelhaft das macht, wovor Logiker immer warnen: Aus der bloßen Korrelation, also einer statistischen Beziehung zweier Phänomene, auf deren ursächlichen Zusammenhang zu schließen.

Was ist das „ICH“ ?

Was ist das „ICH“ ?

Ich

Wir fühlen es, wir kennen es, wir sind es. Das Ich ist unser innerer Steuermann und Geschichtenerzähler. Doch was genau ist dieses Ich eigentlich?

Das Wichtigste in Kürze

Es ist immer da, begleitet mich auf Schritt und Tritt. Es kennt alle meine Erinnerungen, weiß, was ich fühle, weiß, wo ich bin. Mein Ich. Richte ich den Blick nach innen und stelle es mir vor, dann sehe ich eine Art Avatar: eine stofflose und leicht unscharfe Projektion der Person, deren Aussehen ich als mein eigenes wiedererkenne, nur etwas jünger und schlanker und mit einer Frisur, die ich vor zehn Jahren trug.

Doch beim Versuch, seine Form und essenziellen Eigenschaften zu begreifen, gleitet mein Ich mir wie Sand durch die Finger. Das Ich. Was ist das eigentlich? Meist nehme ich es als kleinen Steuermann im Cockpit meines Kopfes wahr. Doch es kann sich auch in entfernte Körperwinkel ausdehnen oder in der Vogelperspektive schweben, um mich selbst gleichermaßen von außen wahrzunehmen.
Mit der Frage, was genau das Ich nun ist, bin ich nicht allein. Zwar erkennen sich auch Schimpansen, Delfine und Elefanten selbst im Spiegel. Doch kein Wesen ist vermutlich wie wir Menschen in der Lage, das eigene Selbst so gründlich auf den Prüfstand zu stellen. So weit die Aufzeichnungen unserer Spezies zurückreichen, so lange zeugen sie auch von der Suche nach dem Ich.

“Ich denke, also bin ich”

Erste Etiketten gab ihm schon Aristoteles in seinen Bemühungen, die Welt zu kategorisieren. Als “Ousia”, das “primäre Seiende” oder “die erste Substanz” definierte er das Hypokeimenon, das “Zugrundliegende”, das unabhängig von konkreten Eigenschaften und Merkmalen als konzeptioneller Kern unteilbar fortbesteht. 2000 Jahre später spitzte der französische Philosoph Rene Descartes diesen Gedanken im 17. Jahrhundert mit seinem berühmten Satz “Ich denke, also bin ich” auf das körperlose, denkende Ich zu, die “res cogitans”, die er als Grundlage aller wissenschaftlich erfassbaren Wirklichkeit beschrieb.

Die Vorarbeiten dieser und anderer Philosophen prägten lange unser Bild vom Ich als einer losgelösten Instanz – und das stellt moderne Gelehrte noch heute vor Probleme Die Suche nach dem Ich: Gibt es so etwas wie das Ich überhaupt? Wenn ja: Hat es im Körper einen bestimmten Ort? Und welche Rolle spielt unser Gehirn bei der Entstehung dieser ominösen Empfindung?

Ohne Körper kein Ich

Fest steht: Der Körper ist viel wichtiger für die Konstruktion des Ichs, als Descartes es je vermutet hätte. Denn was auch immer ich erlebe, wird durch die Sinne gespeist. Wir sehen, hören, riechen, schmecken und fühlen die Welt um uns herum – und auch unseren Körper. Dieser verfügt sogar über einen eigenen Sinn nur für die Wahrnehmung seiner selbst: die Propriozeption, Der sechste Sinn. Rezeptoren in den Muskeln, Sehnen und Gelenken informieren das Gehirn ständig darüber, wo sich der Körper und seine Gliedmaße im Raum befinden, ob wir liegen, sitzen oder gehen. Gemeinsam schaffen all diese Eindrücke und ihre Verarbeitung im Gehirn das Selbst, das erlebte Ich-Gefühl. Es besteht aus den verschiedenen, ständig wechselnden Inhalten unseres Selbstbewusstseins und erdet uns mit einer zentralen Perspektive in der Welt.

Ganz grundsolide ist dieses Sinnes-Ich dennoch nicht. Denn die Selbstwahrnehmung unseres Körpers lässt sich leicht täuschen. So entstehen etwa nach einer Amputation bisweilen aus nun veralteten neuronalen Mustern im Gehirn Phantomschmerzen, wenn die fehlende Hand schmerzt. Und selbst gesunde und unverletzte Menschen lassen sich mit der richtigen experimentellen Trickbatterie davon überzeugen, eine Gummihand oder gar einen kompletten fremden Körper ihr Eigen zu nennen, wenn die Grenzen des Körpers verschwimmen.

Wenn das Ich verloren geht

Auch einige Krankheiten bringen bei den Patienten das sichere Gefühl ihres Ichs ins Wanken Das verlorene Ich. Menschen, die an einer Schizophrenie leiden, empfinden zum Beispiel ihre Handlungen, Gedanken oder Gefühle mitunter nicht mehr als die eigenen, sondern als von äußeren Mächten gesteuert. Demenz kann die Persönlichkeit auflösen oder das Selbst in der Vergangenheit versteinern lassen.

Spektakulär, wenngleich für den Betroffenen tragisch, war der Fall eines Patienten, der als A.D. in die Geschichte der Neurowissenschaft einging. Der Mann hatte infolge eines Herzinfarkts Schäden im frontalen und temporalen linken Cortex erlitten. Wie Woody Allens Character “Zelig” im gleichnamigen Film von 1983 nahm er fortan wie ein soziales Chamäleon immer neue Identitäten an, je nachdem, in welcher Umgebung er sich gerade befand. In der Krankenhausküche wurde er zum Chefkoch, unter Ärzten zum Doktor und in einer Bar zum Kellner.

Auch die Idee, dass traumatische Erlebnisse das Ich sogar in multiple Persönlichkeiten zersplittern können, erfreut sich auf den Fersen von Dr. Jekyll und Mr. Hyde nach wie vor großer literarischer Beliebtheit – wenngleich sie in Fachkreisen umstritten bleibt.

Lernen, Ich zu sein

Doch man muss nicht in solche Extreme gehen, um vom quecksilbrigen Wesen unseres Ichs fasziniert zu sein. Es genügt ein Blick in die menschliche Entwicklung. Denn wir werden nicht mit einem Ich-Bewusstsein geboren. Kleinkinder erkennen sich zu Beginn des zweiten Lebensjahrs noch nicht selbst im Spiegel Erkenne dich selbst – im Spiegel. Haben sie dann eines Tages doch begriffen, wem sie da gerade ins Gesicht blicken, hat das erblühende Selbstbewusstsein noch viel zu lernen.

Erst im Alter von drei bis fünf Jahren erwerben Kinder die sogenannte Theory of Mind, das Wissen um das Ich der Anderen und deren Kenntnisse über einen selbst Theory of Mind – ein Kinderspiel. Sogar das entfaltete Ich entwickelt sich einer Theorie des Philosophen Daniel Dennett zufolge dank der sprachlichen Begabung des Menschen fortwährend weiter. Als Erzähler und Protagonist zugleich verfolgt und formt es die jeweilige Lebensgeschichte und wird damit zum Erschaffer seiner eigenen Erzählung – mit den Worten des Philosophen formuliert: zum “Zentrum der narrativen Gravitation”.

Es ist das Paradox dieser so merkwürdigen Erscheinung “Ich”, dass es uns trotz dieser Fragilität, Wandelbarkeit und Vielschichtigkeit in der Regel beruhigend solide und vertraut erscheint. Dass das so ist, liegt unter anderem am Konzept der Meinigkeit. Es bezeichnet die Gewissheit, mit der wir bestimmte Phänomene als zu uns gehörend einordnen. Mein Bein, mein Bewusstsein, meine Biografie – dass dies alles “zu mir” gehört, ist eine Integrationsleistung des Gehirns. Erst wenn die vielen Teile als Ganzes wahrgenommen werden, erscheint das, was wir als Ich verstehen. Die Meinigkeit ist also eine Grundlage dafür, ein Modell des eigenen Selbst zu entwickeln, das auch über die Zeit stabil bleibt. Das Wissen, dass all dies “zu mir” gehört, erscheint uns dabei selbstverständlich – und hilft nach Vorstellung des Philosophen Thomas Metzinger dem Gehirn dabei, das erlebte und gedachte zu einem ständig aktualisierten Selbstmodell zusammenzubasteln “Mein Tunnel durch die Wirklichkeit”.

Wo sitzt das Ich?

Für die Hirnforschung ist das Ich ein faszinierender Forschungsgegenstand. Aber auch ein schwieriger. Beobachtungen des gestörten Selbst können ebenso wie bildgebende Verfahren Indizien für die Anatomie des Ichs liefern. Doch selbst bei der Suche nach knallharten neuronalen Korrelaten bleibt das Ich schlüpfrig. Ein einzelnes physiologisches Pendant unserer metaphorischen Schaltzentrale gibt es demnach nicht; erst in der komplexen Mischung entsteht das Ich. Bislang ging man davon aus, dass für diesen Cocktail Inselrinde, Gyrus cinguli sowie der mediale präfontale Cortex verantwortlich sind. Doch 2012 wurde der Fall eines Mannes bekannt, bei dem all diese Strukturen schwer geschädigt waren – und der sich trotzdem eines recht intakten Ichs erfreute. Seither vermutet man, dass auch noch weitere Areale bei der Ich- Bildung mitwirken, so wie zum Beispiel der Thalamus oder der posteriore cinguläre Cortex.

Neurobiologisch gesehen muss ich das Bild meines inneren Piloten also wohl gegen das eines Spinnennetzes ersetzen. Doch wenn es stimmt, was Thomas Metzinger behauptet, und es sowieso kein richtiges Selbst gibt, sondern sich das Gehirn nur fortwährend Selbstmodelle bastelt, die ein stabiles Ich vorgaukeln, dann lässt sich auf die Frage, was das Ich denn nun ist, ganz entspannt antworten. Das Ich ist das, was man selbst gerade meint.

Die Suche nach dem ICH

Die Suche nach dem ICH

Suche

Das bin ich! Damit ein Mensch so etwas sagen kann, müssen in ihm viele komplexe Prozesse ablaufen. Forscher verstehen sie erst in Ansätzen – und haben unterschiedlichste Theorien zum Ich entwickelt.

Das Wichtigste in Kürze

Die Philosophen sind schuld. An erster Stelle René Descartes, dicht gefolgt von John Locke. “Ego ille” schrieb ersterer in seinen Meditationen: dieses Ich. “Self is that conscious thinking thing”, lies letzterer verlauten: Das Selbst ist dieses bewusste, denkende Ding. Eine Formulierung, die vielleicht darauf zurückgeht, dass wir dazu neigen, die Welt in Dinge und ihre Eigenschaften zu zerlegen. Eine Formulierung mit weitreichenden Folgen. “Eine Entgleisung”, meint der Bielefelder Philosoph Ansgar Beckermann. Denn mit ihrer ungewöhnlichen Ausdrucksweise setzten die beiden Philosophen die Idee in die Welt, es gäbe so etwas wie ein Ich oder ein Selbst, verstanden als ein Etwas, das man irgendwo dingfest machen könne.

Damit lieferten sie die Basis für die große Vielfalt moderner Theorien, die vom Selbst, vom Selbstbewusstsein oder vom Ich handeln. Schon diese Vielfalt von Begriffen, die mal dasselbe und mal ganz unterschiedliche Dinge meinen, mal Eigenschaften einer Person, mal bestimmte ihrer Fähigkeiten, mal die physiologischen Prozesse, die diesen zugrunde liegen, macht deutlich, dass wir es hier mit einem komplexen Phänomen zu tun haben und mit Forschern, die sich wenig einig sind.

Gerne beginnen Neurowissenschaftler, Psychologen und Philosophen ihre Darstellungen mit einer kleinen Provokation. “Sie sind ihre Synapsen”, schreibt der New Yorker Psychologe und Neurowissenschaftler Joseph LeDoux. “Es gibt kein Ich und es hat nie eins gegeben”, sagt der Philosoph Thomas Metzinger “Mein Tunnel zur Wirklichkeit”. Das klingt sensationell. Es gibt kein Ich? “Natürlich nicht”, sagt Beckermann: “Das Wörtchen ‘ich’ hat in der Sprache seinen Ort als Personalpronomen der ersten Person Singular. Damit beziehen Menschen sich auf sich selbst und sprechen über sich, nicht über ihr Ich.” Doch das bedeute nicht, dass es keine Personen gäbe, keine kognitiven Wesen, die ihre Umwelt und sich selbst wahrnehmen. Beckermann: “Es gibt kein Ich, aber es gibt mich.”

Die heute völlig übliche Rede von “dem Ich” macht die Forschung nicht leichter, denn sie verführt dazu, eine Entität zu suchen, die es nicht gibt. Erst wenn diese Klippe umschifft ist, können die Forscher an ihre eigentliche Arbeit gehen: die zahlreichen komplexen Prozesse aufzuklären, die im Körper und vor allem im Gehirn ablaufen, wenn Menschen sich mit ‘’ich’ auf sich selbst beziehen, welche Mechanismen funktionieren müssen, damit sie sich als Urheber ihrer Handlungen und Eigentümer ihrer Körper erleben können, als Menschen, die mehr oder weniger stabile Persönlichkeitsmerkmale aufweisen und ihre Lebensgeschichte erzählen können.

Die moderne Theorie über dieses komplexe Phänomen setzen mit ihren Erklärungsversuchen auf ganz unterschiedlichen Ebenen an und bedienen sich ganz unterschiedlicher Methoden, von den abstrakten Prinzipien der Mathematik über die Ergebnisse der Neurowissenschaft bis hin zur Entwicklungspsychologie des Menschen. Hier ist eine Auswahl zentraler Ansätze aus den letzten Jahren.

Antonio Damasio: Ordnung in das Selbst bringen

Die erste Aufgabe jedes Forschers, der sich auf dem Gebiet des Ich bewegt, besteht darin, seinen Gegenstand zu zergliedern, um ihn besser handhabbar zu machen. Wie so oft in der Hirnforschung profitieren die Wissenschaftler dabei vom Schicksal der Menschen mit Hirnschädigungen. Hirnschädigungen, die einzelne Fähigkeiten des Menschen in Mitleidenschaft ziehen, andere jedoch bestehen lassen, haben die Forscher überzeugt, dass sie es bei “dem Ich” mit komplexen und evolutionär unterschiedlich alten Phänomenen zu tun haben. Bekannt geworden ist vor allem die Unterscheidung von Protoselbst, Kernselbst und autobiografischem Selbst des Neurowissenschaftlers Antonio Damasio von der University of Southern California. Das Protoselbst hat seine neuronale Basis im Hirnstamm, ist eine Art Karte des Körpers und bleibt unbewusst. Das Kernselbst entsteht, wenn der Organismus mit einem Gegenstand interagiert, und geht mit subjektivem Empfinden einher. Doch erst das autobiografische Selbst integriert Erinnerungen zur Geschichte eines seiner selbst bewussten Menschen. Das Selbst beginnt damit keineswegs erst in der Großhirnrinde.

Jaak Panksepp: Am Anfang war die Tat

Auch für den Psychologen Jaak Panksepp von der Bowling Green State University of Ohio, den Vorreiter der Affektiven Neurowissenschaft, beginnt das Ich nicht mit dem Selbstbewusstsein hochorganisierter Säugetiere, sondern ganz schlicht bereits mit Bewegungen. Fliehe ein Kaninchen vor einem Räuber, handle es sich um die rudimentärste Form eines Bewusstseins – von einem Körper, der an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit mit einem bestimmten Gefühl etwas tut. Grundlage hierfür sind nach Panksepps Ansicht Repräsentationen dieser motorischen Aktivität in evolutionär alten Hirnregionen. Wer zu solch einfachen Reaktionen in der Lage sei, sei ein SELF: eine Simple Egotype Life Form. Erst darauf bauten höhere Formen bis hin zum reflektierten Selbstbewusstsein des Menschen auf.

Karl Friston: Das Ich als Annahme über die innere Welt

Der britische Neurowissenschaftler Karl Friston vom University College London geht die Entstehung eines “Sinns für das Selbst” nicht evolutionär, sondern funktional an. Seine Theorie des Gehirns als Organ, das Vorhersagen produziert, setzt bei der Erkenntnis an, dass der Cortex viel mehr mit Feedbacksignalen aus anderen Teilen des Gehirns beschäftigt ist, als mit Signalen aus den Sinnesorganen. Fristons Interpretation: Das Gehirn generiert ständig Voraussagen darüber, welche Daten als Nächstes einlaufen werden und vergleicht sie mit den tatsächlichen. Bestätigt sich die Voraussage, wird der Prozess auf einer unteren neuronalen Ebenen abgehakt, erst wenn etwas Unerwartetes geschieht, wird die nächsthöhere Ebene benachrichtigt: über den Voraussagefehler, nicht über die Welt. Dort wird die Voraussage korrigiert, oder, wenn sie dann immer noch nicht passt, noch weiter nach oben gereicht. Man erzählt der Chefin ja auch nicht ständig, dass alles ist, wie es sein sollte, sie bekommt vor allem die Probleme auf den Tisch. Letztlich geht es dem Gehirn immer nur um eins: Überraschungen zu vermeiden, meint Friston. Diese Theorie wurde zuerst für die visuelle Wahrnehmung formuliert. Inzwischen sind ihre Verfechter überzeugt, mit diesem Ansatz die kognitiven Funktionen insgesamt in den Griff zu bekommen, auch unser Selbstbewusstsein. Dieses entstehe, wenn das Gehirn Voraussagen über die innere Welt macht und korrigiert – wahrscheinlich in der Insula und im anterioren cingulären Cortex Voraussagefehler in der inneren Wahrnehmung oder in den Denkprozessen machen die Forscher auch als Basis von Ichstörungen wie Schizophrenie oder Depressionen aus.

Marcus E. Raichle: Wenn das Gehirn Pause hat, probt es für das Selbst

An wiederum ganz anderer Stelle sucht der Neurologe Marcus E. Raichle von der School of Medicine der Washington University die Grundlagen der Fähigkeit, “ich” zu sich zu sagen. Seiner Ansicht nach spielt der präfrontale mediale Cortex dabei eine Schlüsselrolle. Seit den 1920er Jahren ist bekannt, dass das Gehirn auch dann aktiv ist, wenn der Mensch sich ausruht. Raichle und seine Gruppe konnten Anfang dieses Jahrhunderts zeigen, dass sich diese Aktivität sogar auf einem recht hohen Niveau abspielt. Wenn der Mensch sich auf eine Aufgabe konzentriert, wird sie nur geringfügig höher. Die Forscher nannten diese Ruheaktivität default mode, Normalzustand. Befindet sich der präfrontale mediale Cortex in diesem Normalzustand, ermögliche dies eine Art inneren Probelauf, in dem Informationen aus Körper und Welt mit Erinnerungen, Bewertungen und Plänen zusammengebracht werden. Dies sei zentral für das vielfältige Phänomen namens Selbst, so Raichle. Und der präfrontale mediale Cortex, der mit zahlreichen Regionen des Gehirns in enger Verbindung steht, sei ein geeigneter Kandidat für die neuronale Grundlage dieser Informationsbörse.

Joseph LeDoux: Was den Menschen einzigartig macht

Was Menschen eigentlich verstehen möchten, wenn sie nach “dem Ich” fragen, ist, wie ihre Individualität zustande kommt, was sie als Mensch einzigartig macht, meint Joseph LeDoux von der New York University. Das ist auch der Sinn hinter seinem provokativen Ausruf: “Sie sind Ihre Synapsen”. Bei jedem Menschen sind die Neuronen auf einzigartige Weise verschaltet. Und die Einzigartigkeit dieser Verschaltung ist es, die die Einzigartigkeit jeder Person ausmacht. Das Selbst, so LeDoux, ist ein zerbrechliches Gebilde. Es ist ein Gefüge aus Gedanken, Emotionen und Motiven und besteht, solange es dem Gehirn gelingt, die ganz unterschiedlichen neuronalen Systeme für Wahrnehmung, Bewegungssteuerung, Emotion, Motivation, Regulation der inneren Organe und Entscheidungsfindung richtig zu koordinieren. Dann passen Handlungsabsichten, die daraufhin ausgeführten Bewegungen, die damit einhergehenden Körperempfindungen und Emotionen zusammen. Zerfällt dieser Zusammenklang, löst sich das Selbst auf. Angststörungen, Schizophrenie, Depressionen können die Folge sein.

Daniel Dennett: Das erzählte Ich

Was LeDoux ein fragiles Gebilde nennt, ist für den Philosophen Daniel Dennett von der amerikanischen Tufts University eine bemerkenswert robuste Abstraktion. Er nennt sie “narratives Gravitationszentrum”: dieses besteht aus den Geschichten über uns selbst, mit denen wir bestimmen, wer wir sind – und existiert, solange wir oder andere Geschichten über uns erzählen. Das Ich ist also nicht die Quelle unserer Gedanken, sondern sein Produkt, wesentlich bestimmt durch die Geschichte des Individuums. Und wie sein physikalisches Gegenstück, ist es nicht an einem bestimmten Ort lokalisierbar. Wir schaffen uns ein Ich, um über uns sprechen und unsere Erfahrungen organisieren zu können. Gewöhnlich gibt es ein narratives Gravitationszentrum pro Körper, so Dennett, bei multiplen Persönlichkeitsstörungen könnten es aber auch mehrere sein.

Jerome Kagan: An der Zusammenarbeit der Disziplinen führt kein Weg vorbei

Den Psychologen Jerome Kagan von der Harvard University dürfte dieses Ergebnis nicht überraschen. Er wehrt seit den 1970er Jahren gegen die Idee, nach den ersten beiden Lebensjahren stehe die Persönlichkeit des Menschen fest. Vielmehr entwickle sich eine Person im Zusammenwirken von Anlagen und Umwelt über ihre Lebensgeschichte. Niemand könne eine Person verstehen, ohne ihre Geschichte zu kennen, so Kagan. Entsprechend müssten Biologie, Psychologie und Geisteswissenschaften zusammenarbeiten, um den Menschen zu verstehen. Das Ich im Gehirn finden zu wollen, mache keinen Sinn.

Epilog

Am Anfang stand ein Wörtchen: Ich. Bei genauerem Hinsehen stellten und stellen die Forscher immer detaillierter fest, dass sich hinter diesen drei Buchstaben ein ganzer Komplex von Phänomenen verbirgt, vom Körpergefühl bis zum Selbstbewusstsein. Ein Komplex, den sie ganz unterschiedlich aufgliedern. Und auch methodisch macht es einen Unterschied, ob man “das Ich” als Neurologe, Entwicklungspsychologe, Evolutionsbiologe, Mathematiker oder Philosoph angeht. Dass sich die verschiedenen Forscher bald auf eine umfassende Theorie einigen werden, ist nicht in Sicht. Diese Theorie aufzustellen, ist eine enorme Aufgabe, denn sie müsste eine Frage wie “Wie wurde ich der Mensch, der ich bin?” ebenso beantworten wie die nach den neuronalen Korrelaten des Selbstbewusstseins und den Ursachen von Ich- Störungen.

Einig sind sie sich jedoch darin, dass “das Ich” kein Ding ist, das man irgendwo finden könnte, wie man einen verlorenen Schlüssel finden kann. “Das Ich” ist vor allem eine verwirrende Redeweise, eigentlich eine Entgleisung. Der Philosoph Beckermann ist sich sicher: “Alles, was man über das Ich sagen kann, kann man besser und klarer sagen, wenn man es auf eine Person bezieht. Denn ich sitze im Sessel, nicht mein Ich.”

Angststörung

Angststörung

Angststoerung-Abenteuer-Psychologie-Stefan Ferner

Angst zu haben, ist etwas ganz Normales. Allerdings kann sich Angst manchmal verselbstständigen und zu einem quälenden Problem werden. Fassen Sie Mut, gehen Sie zu einem Experten! Ihre Angst ist wahrscheinlich gut behandelbar.

Das Wichtigste in Kürze

Angst ist eine zentrale Emotion in unserem Leben, die uns dabei hilft, Schaden von uns abzuwenden, gefährliche Situationen zu meiden und uns durch den Alltag zu navigieren. Ohne sie würde es uns wahrscheinlich heute nicht geben.

Viele Dinge machen Menschen Angst: Kaum jemand mag giftige Tiere streicheln, freie Reden vor großem Publikum halten oder in vollkommen überfüllten U-Bahnen fahren. Angst macht sich auch körperlich bemerkbar: Der Herzschlag erhöht sich, die Muskeln spannen sich an und unsere Atmung beschleunigt sich.

Obwohl Angst etwas sehr Natürliches ist, kann sie sich bei manchen Menschen ins Unerträgliche steigern und so zu einem quälenden Problem werden: Dies markiert den Übergang zu einer Angsterkrankung, bei der die Angst das Leben kontrolliert. Angst hat dann ihre eigentlich nur schützende Funktion verloren und kann unseren Alltag bestimmen und damit zur Hölle machen. Hier sollte professionelle Hilfe gesucht werden. Sie können dafür Ihren Hausarzt fragen oder auch direkt im Internet nach einem Therapeuten in Ihrer Nähe suchen.

Ein häufiges Leiden

Angsterkrankungen sind keine Seltenheit: Die Häufigkeit (Prävalenz) von Angsterkrankungen in Deutschland wird auf über 15 Prozent in der Gesamtbevölkerung geschätzt. In jedem Fall sollten Sie das nicht als ein Zeichen von Schwäche oder Minderwertigkeit auffassen – eine Angsterkrankung kann jeden treffen.

Viele Menschen mit Angsterkrankungen warten aus missverstandener Scham oft Jahre, bevor sie sich ihr Problem eingestehen und den Mut fassen, einen Arzt oder Psychotherapeuten zu konsultieren. Dabei sucht sich doch niemand selbst bzw. bewusst aus, ob er krank oder gesund ist! Angsterkrankungen verschwinden selten von selbst und je länger Sie eine Behandlung vermeiden, desto schwieriger wird sich die Therapie gestalten.

Finden Sie den Mut für einen Termin bei einem Spezialisten

Was sollten Sie also tun, wenn Sie aufgrund Ihrer Ängste kein normales Leben mehr führen können? Die Antwort ist zunächst sehr einfach: Fassen Sie den Mut und gehen Sie zunächst zu Ihrem Hausarzt, einer psychologischen Beratungsstelle oder einem Psychotherapeuten (dafür brauchen Sie keine Überweisung!) und schildern Sie Ihre Probleme offen. Lassen Sie sich helfen: Je mehr Sie sich öffnen, desto mehr Details stehen dem Experten bei der Untersuchung zur Verfügung und umso genauer kann er sich ein Bild von Ihrer Situation machen und helfen.

Können körperliche Ursachen (z.B. eine Schilddrüsenüberfunktion) ausgeschlossen werden, erhärtet sich der Verdacht einer Angsterkrankung. Ihr Hausarzt wird Sie in diesem Fall an einen Facharzt überweisen, der die weitere Diagnostik und gegebenenfalls Therapieoptionen mit Ihnen bespricht. Ihre Familie wird Sie auf diesem Weg begleiten und Ihnen den Rücken stärken – nehmen Sie die Hilfe an und sagen Sie, was Sie sich wünschen oder was konkret getan werden kann, um Ihnen zu helfen. Bedenken Sie, dass Ihre Erkrankung auch Ihre Familie betrifft und beziehen Sie sie in Entscheidung mit ein.

Was passiert nach einer Diagnose?

Eine Diagnose kann sowohl Erleichterung als auch zusätzliche Belastung verursachen. Behalten Sie aber im Hinterkopf, dass zu wissen, was Ihnen fehlt, der erste Schritt in Richtung Heilung ist. Angsterkrankungen lassen sich heute auf viele unterschiedliche Weisen erfolgreich und sicher behandeln.

Generell gibt es sowohl medikamentöse als auch psychotherapeutische Ansätze, die bei der Behandlung von Angsterkrankungen zur Anwendung kommen können. Oft werden auch beide kombiniert, um so den Effekt für den Patienten zu optimieren. Entspannungsverfahren können dabei für zusätzliche Entlastung hilfreich sein.

Die Medikamententherapie zielt auf eine Normalisierung der Signalübertragung im Gehirn ab, die mit der Entstehung und Aufrechterhaltung von Angsterkrankungen in Verbindung gebracht wird. Dazu gibt es mittlerweile viele verschiedene Medikamente, die Ihr Arzt mit Ihnen im Detail bespricht, um dann das für Sie optimale auszuwählen. In jedem Fall sollten Sie sich vor online angebotenen Mitteln hüten, die eine schnelle Hilfe versprechen.

Medikamente oder Psychotherapie oder beides?

Neben der Medikamententherapie hat sich in der Vergangenheit insbesondere die kognitive Verhaltenstherapie bewährt. Die Grundlage der kognitiven Verhaltenstherapie ist es, angstauslösende bzw. angstkonservierende Gedanken (Kognitionen) zu erkennen. Auf diese Weise wird zusammen mit Ihnen ein grundlegendes Verständnis der Erkrankung erarbeitet, was erfahrungsgemäß bereits erste Erleichterung verschafft. In weiteren Sitzungen werden Sie Schritt für Schritt mit den angstauslösenden Reizen konfrontiert und angeleitet, sich Ihrer Angst zu stellen. Dies passiert zuerst mental, später dann virtuell – zum Beispiel am Computer, wo man das Bild einer Spinne präsentiert bekäme und per Joystick näher heranholen kann. Schließlich folgt die Begegnung mit einer echten Spinne. Die Stärke der Angstauslöser wird also kontinuierlich gesteigert, allerdings nur in engmaschiger Absprache mit Ihnen.

Ziel ist es, die körperlichen und geistigen Symptome der Angst voll zu erleben. Sicherheitsverhalten (z.B. Verlassen der Situation) oder Beruhigungsmittel sind dabei nicht erlaubt. Mit der Zeit werden Sie merken, dass die Angst von selbst nachlässt und Sie sich beruhigen. Sie lernen dabei, wie Sie am besten mit ihr umgehen und dass sie letztendlich von selbst verschwindet.

Machen Sie sich keine Sorgen: Auch wenn sich diese Herangehensweise sehr belastend und unangenehm anhört, erfolgt kein Schritt ohne Ihre Zustimmung und ohne ärztliche beziehungsweise psychologische Aufsicht. Zudem werden alle Übungen vorher sehr genau mit Ihnen besprochen und an das, was Sie sich selber zutrauen, angepasst.

Als weitere Hilfestellung werden Ihnen in der Therapie Fähigkeiten vermittelt, die Sie  dabei unterstützen, mit Ihrer Angst besser umzugehen. Damit lernen Sie, angstauslösende Situationen aus einer realistischen Perspektive zu sehen und Ihr eigenes Verhalten besser zu verstehen.

Was Sie selbst tun können

Informieren Sie sich über Ihre Erkrankung! Wissen ist Macht und kann Ihnen dabei helfen, Ihr eigenes Verhalten, Ihre Gefühle und Emotionen zu verstehen. Außerdem kann das Erlernen von Entspannungsverfahren – wie z.B. die progressive Muskelrelaxation nach Jacobsen – helfen, Stress abzubauen.

Bleiben Sie aktiv, treiben Sie Sport und versuchen Sie, sich angstauslösenden Situationen bewusst zu stellen. Viele Menschen vermeiden diese, stellen sich ihnen nur in Begleitung anderer Menschen oder greifen zu ihrer „Notfallmedizin“. Das können angstlösende Medikamente sein, oder auch “nur” ein Talisman. Versuchen Sie, sich den für Sie belastenden Situationen auszusetzen und die Angst ohne Ablenkung und Hilfsmittel zu ertragen. Sie werden erleben, dass die Angst bald von selber nachlässt.

Selbsthilfegruppen sind immer eine gute Anlaufstelle für Personen mit Angsterkrankungen. Hier können Sie sich in einem ungezwungenen Rahmen austauschen und sich gegenseitig Rat geben. Menschen in ähnlichen Lebenslagen können oft am besten verstehen, wie Sie sich fühlen.

Seien Sie offen und ehrlich zu Ihrem Partner, Ihrer Familie und Ihren Freunden. Erzählen Sie, was Sie bedrückt, wie Sie sich fühlen, was genau Ihre Sorgen sind und wie Ihnen Ihre Mitmenschen konkret helfen können. Verstehen Sie aber auch die Probleme Ihres Gegenübers und respektieren Sie Grenzen.

Achten Sie auf das Wohlbefinden Ihres Partners / Ihrer Familie, aber auch auf Ihr eigenes. Gehen Sie Hobbys nach, treffen Sie Freunde und tun Sie, was Ihnen Spaß macht. Das alles kann dabei helfen, sich wieder gut zu fühlen.